Die staatliche Entwicklung Frankreichs und Englands und schließlich auch Spaniens
ging einen anderen Weg als die Deutschlands.
An der unterschiedlichen Auswirkung des Lehnswesens in diesen Ländern
und in Deutschland läßt sich die Offenheit ein und derselben politisch-historischen
Grundform für vielseitige Entfaltungsmöglichkeiten erkennen. In England und
Frankreich gelang es dem Königtum, seine Vormachtstellung gegenüber den großen
Lehnsträgem des Reiches zu behaupten. So steht am Ende des historischen Prozesses
dort die Staatseinheit anstelle der Zersplitterung in der deutschen Geschichte.
Mehrere Faktoren haben in Frankreich die Stärkung der Zentralgewalt im Lehnsstaat
begünstigt: Die Festigung des Erbrechts, die Langlebigkeit der Herrscherdynastie,
der systematische Ausbau des Königsgutes vom Mittelpunkt des Pariser Bekkens
aus, die feste Residenz der Könige in Paris, die aus römischer Rechtstradition erwachsende
Bildung eines königlichen Rechtes und eines ihm dienenden Juristenstandes,
die uneingeschränkte Verfügbarkeit der ritterlichen Vasallen, schließlich, zum Ende
des Mittelalters, die Einführung einer regelmäßig
von der königlichen Verwaltung erhobenen Steuer (taille), aus der ein stehendes Heer finanziert werden konnte, und dieTeilstaaten,
die Anjous beherrschten als Könige von Neapel große Teile Süditaliens von
1268-1435. In England regierte das Haus Anjou-Plantagenet seit 1154.
Philipp II. August (1180-1223) gelang das Einziehen der großen Lehen der Norrnandie,
der Bretagne, der Maine, der Touraine und des Poitou zugunsten der Krone.
Daimit war ein entscheidender Schritt zur Begründüng eines französischen Einheitsstaates
vollzogen. Um die so gewonnene Stellung dauernd zu sichern, verbündete sich Philipp
August mit den deutschen Staufern gegen den englischen König und den mit diesem
verwandten Weifen Otto IV. (1198-1218),der in Deutschland mit dem Staufer Philipp von
Schwaben um Königs- und Kaiserwürde kämpfte. Der Sieg in der Schlacht bei Bouvines
im Jahre 1214 brachte dem französischen König alle englischen Besitzungen nördlich der Loire ein. England und Frankreich waren zu diesem Zeitpunkt bereits zu
europäischen Machtfaktoren aufgestiegen. Ludwig IX., der Heilige (1226-1270), gewann dann im Zuge der Albigenser –Kriege (1202-1229; »Albigenser« nennt man nach
der Stadt Albi eine von der katholischen Lehre abweichende religiöse Bewegung, die
als Ketzerei verfolgt wurde) das Gebiet des Languedoc für die königliche Macht.
Der Machtkampf zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt, der im deutschem Imperium mit voller Schärfe ausgetragen wurde, berührte Frankreich nur am Rande.
Als die Auseinandersetzung zwischen Kaiser und Papst mit dem Tod Kaiser Friedrichs II.
( 1250) zugunsten des Papsttums beendet war, zeigte sich alsbald, dass Päpste im Kaiser nicht so sehr ihren großen Rivalen um die Führung des Abendlandes als vielmehr den Garanten der alten Ordnung Europa und damit ihren eigenen Schutzherrn tödlich getroffen hatten.
Nutznießer wurden die Franzosen. König Phillip IV, dem Schönen (1285-1314), gelang es Papst Klemens V. zur Annahme der französischen Schutzherrschaft und zur Verlegung der geistlichen Residenz nach Avignon zu bewegen. Von diesem Zeitpunkt an war das Papsttum in eine Abhängigkeit der französischen Politik, die schließlich zur Spaltung der Kirchenführung. Der König hatte in dieser Auseinandersetzung mit dem Papsttum zum erstenmal Generalstände einberufen. Geistlichkeit, Adel, Bürger und Bauern stellen sich hinter den König als die „einzige Autorität neben Gott“. Die bürgerlichen Rechtsberater stärkten die königliche Macht und ebneten ihr den Weg zum Absolutismus. Zentralbehörden, Hofgericht, Staatsrat und Finanzkammer waren die Instrumente einer Verwaltung, die teilweise schon moderne Züge trug.
Der Hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich (1339-1453) wurde ausgelöst durch den Erbfolgestreit zwischen Philipp VI., dem ersten König aus dem Hause Valois, und
Eduard III. von England. Beide konnten sich auf ihre Verwandtschaft mit
den Capetingern berufen. Der Krieg endete schließlich mit dem
Sieg der Valois. Vorbereitet hatte diesen Sieg das Eingreifen der Jeamie d'Are, der Jungfrau von 0rleans«, eines Bauernmädchens, das aus visionärem Erleben von religiös-patriotischen Ideen besessen war. Johannas Erfolge führten zur Krönung Karls VII. in Reims (1429) und zur Auflösung der englisch-burgundischen Koalition zugunsten eines Bündnisses zwischen Karl VII. und Philipp dem Guten von Burgund.
Mit dem Rückzug der Engländer, die 1436 Paris, 1449 Rouen und
schließlich allen Besitz in Frankreich bis auf Calais aufgeben mußten, verringerte sich auch der Einfluß der großen Lehnsträger Frankreichs, die aus
der Schwäche des Königtums während des Krieges Nutzen gezogen hatten.
So konnte am Ausgang des Mittelalters Ludwig XI. (1461-1483), der
Sohn und Nachfolger Karls VII. den letzten Widerstand der Kronvasallen
gegen die Zentralgewalt brechen und die Grundlagen für die absolute Gewalt des französischen Königtums legen, die dann zwei Jahrhunderte später unter Ludwig XIV. ihren Höhepunkt erreichte.
In England baute seit Wilhelm dem Eroberer die Normannische Dynastie (1066-1154) das Lehnssystem aus. Die grundherrlichen Verhältnisse
wurden im Landesregister von 1086, dem Domesday Book, aufgezeichnet. Die Rechte des Königs und des Hochadels wurden in England
genau festgelegt, zuerst in der Krönungs-Charte Heinrichs l., danach unter dem Hause
Anjou-Plantagenet in der »Magna Charta libertatum«(1215).
Das Königtum bediente sich jedoch des Parlaments, um seine lehnsrechtliche Vormachtstellung gegenüber den großen Vasallen zu wahren.
Zu dieser Institution, einer gelegentlich einberufenen Versammlung, fand
bald auch das Bürgertum Zutritt. Heinrich III. (1216-1272) nutzte die
Möglichkeit, bürgerliche Parlamentsmitglieder zu berufen, als Mittel, um
die Vormacht des Adels zu brechen. Unter Eduard l. waren im Parlament Hochadel
(Inhaber der Kronlehen), Ritter und Bürger vertreten. Zu seiner Zeit war durch die Entwicklung des Parlaments die Gefahr des Lehnspartikularismus bereits gebannt.
Der weitere Gang der Geschichte war bestimmt durch die Rivalität zwischen König und Standesvertretung. Das Königtum wollte dem allgemeinen Zug der Entwicklung auf dem Kontinent folgen und strebte die absolutistische Regierungsform an. Während des Hundertjährigen Krieges
(1339-1453) spaltete sich das Parlament in Unterhaus und Oberhaus. Bürgertum und Adel standen sich nunmehr konkurrierend im Parlament gegenüber, das als Ganzes seine Rechte gegenüber dem durch Kriegs-und Finanznöte geschwächten Königtum erweiterte.
Dennoch wäre es vielleicht nach dem Ende des Hundertjährigen Krieges zu einer Restauration der Adelsmacht gekommen, wenn dieser Konflikt nicht sogleich
durch das Ringen der beiden Häuser der Roten Rose (Lancaster) und der
Weißen Rose (York) um die Nachfolge der Plantagenets abgelöst worden
wäre (1455-85). Erst nach der Beendigung dieses 30jährigen Bürgerkrieges, der das ganze Land in zwei Lager gespalten hatte, konnte das Haus
Tudor (1485-1603) die königliche Gewalt wieder festigen.